KR-Newsletter 03/2024 - 15.04.2024

Was sich alles hinter einer Digitalisierungsvorlage verbirgt

Die am 19. März 2024 von der Ratsleitung verabschiedete Vorlage zur Einführung eines ausschliesslich papierlosen Ratsbetriebs und zur Schaffung einer ständigen Digitalisierungskommission war beachtlich: Der Kanton wird als Vorreiter bezeichnet. Verantwortlich dafür ist auch eine alte «bestehende» Bestimmung, die im geänderten Kontext eine neue Bedeutung erhält.

Gemessen an den bestehenden, teilweise mehr als 30-jährigen Bestimmungen des Kantonsratsgesetzes und des Geschäftsreglements stellt die Umstellung auf einen vollständig papierlosen Ratsbetriebs zweifellos einen Quantensprung dar. Dies wird erst bewusst bei einem genaueren Blick auf das bestehende Recht, worin noch von Tonbandaufnahmen die Rede ist oder sich Regelungen zur Frage finden, wie verhindert werden kann, dass der Ratsbetrieb durch «Klickgeräusche» von analogen Fotokameras gestört wird.

Gemessen an den vorhandenen Möglichkeiten, welche die Digitalisierung heute bietet, stellt die Vorlage hingegen einen fast bescheiden anmutenden Schritt dar: Die vollständig digitale Aktenpublikation und die vollständig digitale Abwicklung des Geschäftsverkehrs sind nicht revolutionär, sondern erinnern eher an eine «logische» Umstellung, wie sie sich in verschiedenen anderen Lebensbereichen bereits vor längerer Zeit vollzogen hat, beispielsweise im e-Banking.

In der Tat steht in der hier interessierenden Vorlage vorwiegend die Effizienz und die Optimierung im Zentrum – und weniger digitale Innovationen. Einer der Grundgedanken der Vorlage lautet, dass Digitalisierung kein Selbstzweck ist, sondern bewusst genutzt und in Bereichen eingesetzt werden soll, in denen das Parlament als Institution, die Ratsmitglieder und die Öffentlichkeit einen Mehrwert erhalten.

Entsprechend geht es bei der hier interessierenden Vorlage primär darum, den Parlamentsmitgliedern mit dem Ratsinformationssystem ein effektives Hilfsmittel zur Mandatsausübung zur Verfügung zu stellen, neuen Anforderungen der Öffentlichkeit durch schnelleres Verarbeiten von Informationen (z.B. Anträge, Vorstösse) gerecht zu werden und dem steigenden Aufwand auf Seiten Parlamentsdienste zu begegnen.

Hingegen geht es bei der Vorlage nicht darum, die parlamentarischen Abläufe neu zu erfinden und mit innovativsten Tools, Prozessen oder Modeströmungen zu experimentieren – z.B. Entscheidungsabläufe durch den Einsatz von digitaler Intelligenz zu verändern. Ganz im Gegenteil steht im Fokus, das Parlament als Institution und seine heutige verfassungsmässige Stellung auch in Zukunft vor den veränderten Rahmenbedingungen in einer zunehmend digitalen Welt zu stärken.

Zu den geänderten Rahmenbedingungen wird in den nächsten Jahren der zunehmende Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) bei Parlamentsmitgliedern und der Öffentlichkeit stehen. Denkbar ist, dass – anstelle des Aktenstudiums – Tools einzelne Geschäfte durchleuchten und einem Ratsmitglied anhand hinterlegter Parameter eine Kurzanalyse mit Stimmempfehlung abgibt – und so eine Debatte als wesentliches Merkmal der parlamentarischen Entscheidfindung entfällt. Denkbar ist weiter, dass Anträge und Vorlagen von KI erstellt werden und dabei genau so formuliert werden, dass sie im Rat eine Mehrheit finden. Es ist nicht auszuschliessen, dass dereinst der Grundsatz, dass die Politik von Menschen für Menschen gemacht wird, relativiert wird.

Denkbar ist auch, dass mithilfe von Analytics Tools das Verhalten von Parlamentsmitgliedern stärker ausgewertet wird, oder die Informationsvermittlung und Berichterstattung über bestimmte Ratsmitglieder aufgrund von Algorithmen auf bestimmte Aspekte reduziert werden, so dass das Gesamtbild verzerrt wird.

All das mag noch nach Science-Fiction tönen, doch auch die «Tonbänder» und die «Klickgeräusche von analogen Fotokameras» erscheinen heute aus einer anderen Zeit. Entsprechend wird der sorgsame Umgang mit Daten auch im Parlamentsbereich zunehmend an Bedeutung gewinnen. Schutz hierfür bietet in erster Linie das Kommissionsgeheimnis, indem Daten und Informationen zu einem zentralen Teil der politischen Entscheidfindung (Vorberatung in Kommissionen) nicht öffentlich werden und somit auch dem Einsatzbereich der künstlichen Intelligenz entzogen bleiben.

Eine ausgewogene Vorlage zur Digitalisierung darf nicht ausschliesslich auf die Digitalisierung von Prozessen ausgerichtet sein. Vielmehr hat darin auch eine Auseinandersetzung mit Fragen zu Auswirkungen eines zunehmend digitalisierten Umfelds auf bestehende Entscheidverfahren und die Stellung als staatliche Institution stattzufinden. Das Beispiel des Kommissionsgeheimnis zeigt, dass dabei auch eine «alte» und bestehende Bestimmung, die immer wieder zur Diskussion steht, weil nicht alle Kantone ein Sitzungsgeheimnis von Kommissionen kennen, in einem veränderten Kontext eine neue Bedeutung erhalten kann – und dadurch ein Revival durchlebt.

Die Dokumente zur Vorlage sind zu finden unter den Ratsdokumenten der 22. Ratsleitungssitzung.

Autor: Markus Ballmer